Alles klappt, nur Mathe nicht?

Wenn Sie vermuten, dass Ihr Kind mit einer Dyskalkulie kämpft, dann dann nehmen Sie gerne direkt Kontakt mit uns auf. Außerhalb der Ferienzeiten melden wir uns dann umgehend bei Ihnen zurück. Oder aber lesen Sie hier in Ruhe, worum es bei einer Dyskalkulie geht, welche ersten Schritte Sie schon alleine machen können, und welche Rolle wir vielleicht als Lernwerkstatt spielen könnten.


Definition · Symptome · Pseudodyskalkulie · Ursachen · Mengenvorstellung · Mechanisches Rechnen · Triple-Code · Schätzen · Zahlendenken · Sprachdenken · Andere Fächer · Psyche · Praxistipps · Internet · Fehler · Psychologisierung · Fatalismus · Druck · Falsche Zuversicht · Sonderrollen · Dyskalkulie in der Lernwerkstatt



Die offizielle Definition von Dyskalkulie

Nach der offiziellen Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation bezeichnet Dyskalkulie "eine Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden."

Das heißt kurz gesagt: es gibt Probleme mit den Grundrechenarten bei ansonsten normal bis überdurchschnittlich ausgebildeten Fähigkeiten. Alle Fächer laufen eigentlich gut, nur Mathe nicht: wenn wir diesen Satz am Telefon hören, denken wir zuerst an Dyskalkulie.

Für Kinder mit einer Dyskalkulie sind Zahlen leere Symbole oder Punkte auf einem Zahlenstrahl. Eine ältere Schülerin bei uns nannte das die "Zahlensuppe". Da Kinder mit einer Dyskalkulie mit den Zahlen zunächst keine Mengenvorstellung verbinden, geht der Rechenunterricht von Anfang an an ihnen vorbei. Sie bündeln die Mengen nicht zu sinnvollen Teilmengen, sondern gehen meist zählend vor. Was bis zur zweiten Klasse oft noch gut funktioniert, klappt dann aber der dritten Klasse zunehmend gar nicht mehr.
Ab der dritten Klasse ist die Diagnose meist eindeutig. Das wichtigste Erkennungszeichen ist das zählende Rechnen.
Man kann auch recht sicher sagen, was Dyskulie nicht ist: fehlender Fleiß, Verstockheit, fehlendes Selbstvertrauen (das kommt erst später als Folge) oder eine schlechte Beschulung. Verfolgen Sie vor allem nicht die Idee, dass ihr Kind einfach nur mehr lernen müsste. Dyskalkulie hat nichts mit Faulheit oder fehlender Motivation zu tun.


Wie erkennt man eine Dyskalkulie?

Oft wird eine Dyskalkulie erst in der zweiten oder dritten Klasse erkannt, wenn nämlich die Aufgaben nicht mehr schnell genug über reine Zählstrategien oder Auswendiglernen gelöst werden können. Es gibt eine Anzahl typischer Probleme, die auf eine Dyskalkulie verweisen:



Um eine Dyskalkulie „offiziell“ festzustellen, kann man sich an Psychologen wenden. Es gibt standardisierte Tests, die bei der Klärung helfen. Bevor man ein Kind einem Test unterzieht, sollte man sich aber fragen, wozu man das Ergebnis haben möchte. Benötigt man es für einen Nachteilsausgleich an Schulen? Braucht man es für Zuschüsse für eine Förderung oder die Zulassung zu einer Fördereinrichtung? Wenn es nur darum geht, sich selbst Klarheit zu verschaffen, dann genügen vielleicht auch die oben angeführten Symptome.


Gibt es auch eine Pseudodyskalkulie?

Ja, aus unserer Sicht gibt es so etwas wie eine Schein- oder Pseudodyskalkulie. Es gibt aber auch eine wesentliche Einschränkung.

Viele Kinder, Jugendliche bis hin zu Studenten können nicht mehr wirklich rechnen. Bei der Aufgabe 712 geteilt durch vier sind in Probestunden sogar Maschinenbaustudenten ausgestiegen. Die Aufgabe 2 geteilt durch 0,5 bereitet gut der Hälfte der Schüler Probleme. Im Kopf oder mit Papier zu berechnen was ein Achtel weniger als zwei Drittel ist kriegen ebenfalls viele nicht hin, bis zum Abitur und darüber hinaus. Darüber klagen seit Jahrzehnten Hochschulen und Ausbildungsbetriebe.

Auf den ersten Blick fühlt man sich an Dyskalkulie erinnert. Aber ein einfacher Test genügt, um zu entscheiden, ob wirklich eine Dyskalkulie vorliegt oder nicht. Verstehen Schüler kurze Erklärungen und können Sie sie schnell auch auf leicht abweichende Aufgaben übertragen, liegt ziemlich sicher keine Dyskalkulie vor. Wenn man zwei Rechenstrategien für 712 geteilt durch 4 kurz erklärt, und Schüler können diese dann auf alle möglichen Zahlen anwenden, sprechen wir von einer Pseudodyskalkulie. Taschenrechner, alle möglichen Apps und fehlendes Training genügen als Erklärung.

Bei einer Pseudodyskalkulie schieben wir gerade für ältere Schüler in der Lernwerkstatt standardmäßig einen Crash-Kurs „Kopfrechnen“ ein. Viele Schüler sind angenehm überrascht, wie schnell sie auf einmal Brüche, Potenzen und Gleichungen verstehen. Nach wenigen Monaten haben sich die Rechenfertigkeiten oft ohne großen Aufwand deutlich verbessert.


Das Triple-Code-Modell

Eine gute Orientierung für unserere praktische Arbeit in der Lernwerkstatt ist das sogenannte Triple-Code-Modell des französischen Neurowissenschaftlers Stanislaw Dehaene. Zum Lösen von Mathematik-Aufgaben, so Dehaene, kann man auf drei Weisen vorgehen: a) analog-schätzend, b) mit arabischen Zahlen und c) sprachlich. Es gibt viele ähnliche Modelle. Gemeinsam ist ihnen, dass Mathematik nicht nur symbolisch auf dem Papier gedacht werden kann, sondern auf verschiedene Weisen.
Mathematik ist mehr als nur Rechnen. Sprache, Tun und bildliches Denken gehören untrennbar dazu.
Tatsächlich fordert die Schule auch in Mathematik alle drei Denkweisen immer wieder auch ein. Denken Sie an Textaufgben. Oder denken Sie daran, dass man Diagrammen und Bildern Informationen entnehmen soll. Nur rechnen wollen, führt in die Sackgasse.

Nach Dehaenes Modell ist man in Mathematik also nicht dann gut, wenn man nur eine der drei Fähigkeiten beherrscht, sondern alle drei Fertigkeiten einigermaßen gut kann und sie dann auch miteinander verbindet. Der erste Blick bei einer Probestunde geht bei uns also dahin, ob jede der drei Denkweisen einzeln für sich „funktioniert“. Und der zweite Blick zielt darauf ab, ob die Kinder von sich aus zwischen ihnen wechseln.


Analog-schätzendes Denken

Das analog-schätzende Denken ist bei vielen Kindern mit einer Dyskalkulie oft erstaunlich gut ausgebildet. Wenn man ihnen einen Meterstab zeigt, und sie sollen damit die Höhe eines Raumes abschätzen, sind sie darin nicht schlechter als andere. Hier haben wir also eine Stärke, die man in das Lernen einbinden kann und auch sollte.
1000 Kubikzentimeter-Würfel aus Holz und daneben ein MessbecherViele Kinder, auch mit einer Dyskalkulie, schätzen gerne und gut, wie viele der Würfel von dem Block links in den Messbecher rechts gehen würden. Eine solche Schätzung ist dann eine gute Hilfe für die spätere Rechnung.
In der Lernwerkstatt betten wir Rechenaufgaben wo immer möglich ein, in solche anschaulichen kleinen Versuche und Alltagsbeispiele. Erst wenn alles in Sprache klar verstanden ist und wir bestmöglich das Ergebnis geschätzt haben, beginnen wir mit dem Rechnen.

Eines darf aber nicht übersehen werden. Das analoge schätzen funktioniert oft nur gut in direkt Verbindung mit anschaulichem Material. Hier versuchen wir über, die Kinder langsam dazu zu bewegen, auch innere Denkbilder aufzubauen, sodass sie sich irgendwann vom konkreten Anschauungsmateriel lösen können. Das macht etwa ab den Klassen 9 bis 10 Sinn.


Zahlendenken

Hier treten die größten Probleme bei Kindern mit einer Dyskalkulie auf. Vor allem das Denken in unseren arabischen Zahlen mit ihrem Stellenwertsystem ist schwierig. Zehnerübetritte bei der Addition (8+3) und noch schlimmer bei der Subtraktion (23-8) werden meist zählend gelöst. Daher kommt es, dass eine Dyskalkulie meist darüber auffällt dass Kinder für scheinbar einfache Rechnungen sehr viel Zeit brauchen.

Eine ältere Schülerin hat uns einmal eine gutes Gleichnis gegeben, wie sich Dyskalkulie von innen anfühlt: versuchen Sie einmal schnell und sicher zu sagen, welcher Buchstabe 5 vor dem M im Alphabet steht. Machen Sie das einmal. Beobachten Sie, wie Sie dabei vorgehen. So ähnlich, sagte die Schülerin, rechne sie 13 minus 5.
Sagen Sie jetzt möglichst schnell und fehlerfrei das Alphabet einmal rückwärts auf.
Stellen Sie sich vor, allen anderen gelingt das nach etwas Übung problemlos, aber irgendwie wissen Sie nicht wie es geht. Und dann kommen Arbeiten, und es kommt der mündliche Unterricht, woran man teilnehmen soll. Wie würde sich das anfühlen?

Das reine symbolische Denken, das den meisten Kindern kaum Probleme bereitet, ist für Kinder mit einer Dyskalkulie keine Hilfe sondern Quelle ihrer Probleme. Der richtige Weg dort ist es, mit speziell entwickeltem Material über lange Zeiten systematisch und mit Struktur geeignete Denkbilder aufzubauen. Wichtig ist, dass man das Anschauungsmaterial nicht oft wechselt. Einmal ausgewählt, sollte eine bestimmte Materialart (Dienes, Montessori, Kieler Zahlenbilder) bis zum endgültigen Erfolg benutzt werden. Wenn Sie zuhause mit Ihrem Kind üben wollen, stimmen Sie sich mit anderen Lehrpersonen ab, welches Material Sie verwenden möchten.


Sprachliches Denken

Nehmen wir als einfaches Beispiel die Rechen-Aufgabe 2 geteilt durch 0,5. Wer sich hier beim rechnen unsicher ist, ob das Ergebnis 4 oder vielleicht nur 1 oder sonstetwas ist, dem hilft die Versprachlichung: man hat 2, wie viele 0,5er sind darin enthalten? Mit dieser Versprachlichung sind sich die meisten Schüler dann (zu Recht) sicher, dass 4 die richtige Antwort ist. Das war ein Beispiel für die oft unterschätzte Rolle der Sprache. Die Lerntherapeuting Christel Rosenkranz hat einmal festgehalten, dass Kinder eine Rechnung erst dann verstanden haben, wenn sie sie in eigenen Worten beschreiben können.


Was sind die Ursachen einer Dyskalkulie?

Die genauen Ursachen einer Dyskalkulie sind nicht bekannt. Man kann aber zunächst einige Dinge ausschließen: falsche Beschulung, fehlender Wille und allgemeine Probeme mit der Auffassungsgabe. Das Wesentliche einer Dyskalkulie ist ja gerade dass keine dieser Erklärungen passen.


Ähnlich wie auch bei Legasthenie, scheint es auch bei der Dyskalkulie es einen genetischen Einfluss zu geben. Dyskalkulie, zumindest die Neigung dazu, kann also vererbt werden. Nun ist Eltern und Lehrern wenig geholfen, wenn Sie wissen, welches Gen hier vielleicht einen Einfluss hat. Interessant ist die Frage: gibt es tieferliegende, sogenannte „basale“ Denkstrukturen, die bei einer Dyskalkulie beeinträchtigt sind? Ja, diese gibt es.


Fehlende Mengenvorstellung

Fast immer kann man bei Kindern mit einer Dyskalkulie irgendwelche Probleme mit der anschaulichen Vorstellung von Zahlen finden. So zählte ein Kinder am Ende der Klasse 2 drei auf dem Tisch stehende Tierfiguren einzeln ab. Offensichtlich sah es nicht auf einen Blick, dass es drei Tiere waren. Nun verschob ich eines der drei Tiere ganz wenig von der alten Stelle. Das Kind zählte neu und sagte dann nach einigem Überlegen, dass es wieder drei Tiere seien. Nach zwei Monaten [!] intensiv durchgespielter Geschichten mit Tiere rief das Kind dann plötzlich voller Freude laut die Erkenntnis aus: „Das sind ja immer gleich viele Tiere, egal wie du sie hinstellst!“. Fachleute sprechen hier von der fehlenden Idee der Mengenkonstanz.
Was soll das Gleichzeichen hier bedeuten? Es gibt ja durchaus Unterschiede zwischen den zwei Grüppchen. Ist das für manche Kinder ein Grund für Verwirrung?

Mechanisches Rechnen

Kinder mit einer Dyskalkulie lieben die schriftlichen Rechenwege. Man kann die richtige Schrittfolge auswendig lernen, ohne dass man dabei die Bedeutung der Zahlen erfasst haben muss. Das zeigt sich zum Beispiel beim Kopfrechnen.
Klassisch ist der Fall, dass Kinder 1002 minus 3 im Kopf schriftlich rechnen wollen. Sie kommen dann zum Beispiel auf 98, ohne dass sie merken, dass dieses Ergebnis überhaupt nicht stimmen kann.
Bei der Neigung von Kindern hin zum mechanischen Rechnen ist es aber schwer, Ursache und Wirkung zu unterscheiden.

Haben die Kinder eine Dyskalkulie, weil ihr Kopf unbewusst stets nur zu mechanischen Rechenwegen neigt? Wir haben tatsächlich immer wieder beobachtet, dass es Kinder gibt, die sehr gut anschaulich, sprachlich und mit Mengen denken können. Aber ohne ständige Aufforderung tun sie es nicht. Wenn sie älter sind, können sie sich selbst reflektieren. Sie sagen dann zum Beispiel, dass ihnen das anschaulich Denken einfach keinen Spaß macht, sie haben eine Abneigung. Und umgekehrt macht ihnen das Ausführen von starren Rechenwegen einfach Freude. Hier könnte das mechanische Rechnen also die Ursache der Probleme sein.

Genauso gut kann es aber auch sein, dass das mechanische Rechnen eine Folge der Dyskalkulie ist. Wenn man nicht genau weiß, wofür die Zahlen stehen, was sie bedeuten, dann bieten Rechenwege, Algorithmen, Formeln und derlei mehr oft einen Ausweg. Wenn das in Arbeiten dann abgefragt wird, können Kinder mit einer Dyskalkulie oft gute bis sehr gute Noten erreichen. Das Bild ist aber trügerisch. Bei Textaufgaben werden die Probleme dann wieder sichtbar.


Ist Dyskalkulie nur in Mathe ein Problem?

Nein, viele Sachaufgaben aus den Nebenfächern bauen auf einem Verständnis der mathematischen Sachverhalte auf. Der Umgang mit Tabellen, Graphen und Diagrammen, die Himmelsrichtungen, das Erfassen von Zeiträumen, Maßstäben und Formeln finden sich in Fächern wie Physik, Erdkunde, Geschichte, Biologie und so weiter.

Obwohl viele Kinder am Anfang der Grundschule eine große Begeisterung für den Schulstoff mitbringen, erlischt das Engagement letztendlich, wenn die Beurteilungen und Noten dauerhaft unbefriedigend bleiben. Situationen, die ein Rechnen erfordern werden zunehmend gemieden und die Schule selbst kann zu einer Quelle dauerhafter Angst werden.


Was tun, wenn die Psyche leidet?

Kinder mit einer Dyskalkulie durchleben oft einen langen Leidensweg. Manchmal werden die Ursachen ihrer Probleme erst in der dritten oder vierten Klasse erkannt oder ernst genommen. Dann drängt bereits die Frage nach der weiterführenden Schule. Teilweise kommt es auch noch vor, dass Lehrer oder Eltern nicht eine Dyskalkulie sondern eine falsche Einstellung oder fehlendes Bemühen der Kinder verantwortlich machen. Kinder mit einer Dyskalkulie entwickeln deshalb oft eine ausgeprägte Sekundärsymptomatik. Als Sekundärsymptome bezeichnet man die sozialen und psychischen Folgen einer unbehandelten Dyskalkulie. Vor allem sind hier ein angegriffenes Selbstwertgefühl und Schulängste zu nennen. In der Anspannung, den täglichen Anforderungen zu genügen, geht dabei oft der Blick für die Stärken und Interessen dieser Kinder verloren. Die Erfahrung zeigt, dass dyskalkule Kinder oft Fähigkeiten im musischen, handwerklichen oder gestalterischen Bereich besitzen. Vielfach zeigen sie auch ein ausgeprägtes Interessen an Sachthemen sowie eine lebendige Neugier an der Entdeckung der Welt - das schließt auch mathematische Sachverhalte mit ein! Solche Stärken und Interessen auf eine lebensnahe Weie erfahrbar zu machen stellt einen wesentlichen und sehr wichtigen Teil der Arbeit in der Lernwerkstatt dar. Viele Versuche, die immer eng etwas mit dem Stoff aus der Schule zu tun haben, schaffen ein tieferes Verständnis, Freude am eigenen Können und fördern die Neugier an der Welt.


Praktische Tipps

Es gibt eine Vielzahl von kleinen Dingen, die Schüler, Eltern oder auch Lehrer ohne große Aufwand beherzigen und ohne großen Aufwand umsetzten können. Einige Erfahrungen aus unserer Zeit seit 2010 haben wir als kurze Tipps rund um Dyskalkulie zusammengestellt.

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